Für eine linke Kritik der Corona-Politik

Philipp von Becker
18 min readMar 1, 2021

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Anmerkungen zu #ZeroCovid, den Lockdown-Maßnahmen als unausgesprochenem Generationen- und Klassenkonflikt und der künftigen Kultur unseres Zusammenlebens

Mit der Initiative #ZeroCovid wurde im Januar eine erste offene Debatte über die Sinnhaftigkeit von Lockdowns innerhalb der Linken angestoßen. Kritiken an #ZeroCovid kamen beispielsweise von Alex Demirović und vier im Gesundheitssektor Arbeitenden. Eine Entgegnung auf die Kritiken kam u.a. von Daniel Loick — auf der Seite seines Artikels findet sich auch ein Überblick zu weiteren bisherigen Debattenbeiträgen.

Ich teile die Kritik an #ZeroCovid und möchte vor allem vier Punkte nennen, die der Wunsch nach „ZeroCovid“ und einem „solidarischen Lockdown“ meines Erachtens verkennt:

1.) Deutschland respektive der Staatenverbund der Europäischen Union ist aus vielerlei Gründen nicht vergleichbar mit den Ländern, die als Beispiele dafür angeführt werden, dass ZeroCovid machbar sei (etwa Südkorea, Australien, Taiwan, Neuseeland etc.).

2.) Wenn ZeroCovid in Europa überhaupt nur machbar sein soll, bedürfte es eines umfassenden Kontaktverfolgungs-, Quarantäne- und Grenzregimes. Es bedürfte eines repressiven, totalen Überwachungsstaats.

3.) Ein „solidarischer Lockdown“ ist nicht möglich, weil seine Realisierung bereits die im Aufruf geforderten anderen sozialen Verhältnisse und Machtverhältnisse zur Voraussetzung haben müsste. Deshalb perpetuiert der ZeroCovid-Appell das (falsche) Narrativ, dass Lockdowns in der realen Welt — d.h. nicht im sozialistischen Zauberland, das der Appell skizziert und das ich mir auch wünschen würde — ein notwendiges und geeignetes Mittel sind und verstellt damit den Blick auf die eigentlich zu übende (linke) Kritik: Dass die durchgeführten Lockdowns eben jene Machtverhältnisse, die die Unterzeichner überwinden wollen, noch verfestigen und die soziale Ungleichheit, die die Unterzeichner kritisieren, noch massiv erhöhen.

4.) Wir befinden uns in einem Dilemma. So paradox es klingt: Nicht jeder vermeidbare Tod ist vermeidbar und bei jedem Wertekonflikt, der alle Mitglieder einer Gemeinschaft betrifft, geht es bei praktischen Antworten auf den Konflikt immer um eine gesamtgesellschaftliche Abwägung der hierfür einzusetzenden begrenzten Mittel und um die Frage der Verhältnismäßigkeit. Weder ist es noch kann es Aufgabe des (demokratischen) Staates sein, jedes Leben (um jeden Preis) zu schützen.

Im Folgenden werde ich mich auf die letzten beiden Punkte konzentrieren. Die Hauptthesen hierbei lauten, dass in Deutschland Maßnahmen zur Bekämpfung von Covid-19, die nicht in Grundrechte eingreifen und nicht zu massiven “Kollateralschäden” führen, zu wenig, zu spät oder gar nicht getroffen wurden und dass eine möglichst umfassende Abwägung der Folgen der Maßnahmen nicht stattgefunden hat.

1. Was bisher (nicht) geschah

Hierfür sei zunächst kurz rekapituliert, was bisher (nicht) geschah. Obwohl Gesundheitsminister Jens Spahn Ende Januar 2020 für einen „besonnenen Umgang“ mit SARS-CoV-2 plädierte und suggerierte, dass man alles im Griff habe und gut vorbereitet sei, war sechs Wochen später das genaue Gegenteil der Fall. Man hatte überhaupt gar nichts vorbereitet, es existierten noch nicht mal ausreichend Masken und Schutzkleidung für medizinisches Personal. Von einem „besonnenen Umgang“ konnte auch nicht die Rede sein, vielmehr wurden die Öffentlichkeit und Bevölkerung im Angesicht der Bilder von Bergamo, Bilder von Bergamo, Bilder von Bergamo in einen mentalen Kriegszustand versetzt — mit der eindringlichen Empfehlung des berüchtigten Papiers aus dem Bundesinnenministerium den Bürgern möglichst viel Angst zu bereiten. Dass in Norditalien die schlechtesten Luftverhältnisse in ganz Europa herrschen, Italien die zweitälteste Bevölkerung der Welt hat und über eine vergleichsweise niedrige Versorgung mit Krankenhaus- und Intensivbetten verfügt, waren zu diesem Zeitpunkt bereits lästige Details einer differenzierten Betrachtung, die im Kurven- und Balkendiagrammgewitter von steigenden Zahlen positiv auf SARS-CoV-2 Getesteter unterging. Wir befanden uns im Kriegszustand, Gründe, Mittel und Folgen des Krieges spielten da keine Rolle, erstmal galt es, scheinbar solidarisch den Feind zu bekämpfen.

Und da sich schon bald protestwillige Neonazis fanden, die mit „Schwurblern“, „Esoterikern“ und Verschwörungstheoretikern“ auf die Straße gingen, konnte Kritik am Corona-Kriegsregime nicht nur als unsolidarischer Verrat an der Volksgesundheit und Aufruf zum Großelternmord, sondern auch als latent rechtsradikale Spinnerei diffamiert werden. Dass zu den „Querdenkern“ zu einem Großteil Anhänger der Grünen und Linken mit akademischem Hintergrund gehörten, zeigte Anfang Dezember eine Studie von Oliver Nachtwey, Nadine Frei und Robert Schäfer — dies war dann allerdings nur noch eine Randnotiz. Viel zu tief eingebrannt hatten sich bereits Vokabeln wie das infame „Corona-Leugner“ und das menschenverachtende „Covidiot“, unbeirrt und unversöhnlich standen und stehen sich bis heute Pro- und Kontra-Lockdowner an der Front gegenüber. Insbesondere Teile des links-(i)liberalen Bürgertum gefielen sich darin, in wohlfeiler Überheblichkeit und dank Amazon Prime und Fresh im Home Office geräumiger Altbauwohnungen bestens versorgt, auf den vermeintlichen Nazi-Pöbel auf der Straße herabzublicken, während man selbst ganz sicher auf der moralisch richtigen Seite war. Wer in diesem vergifteten, antidemokratischen Klima noch öffentlich Kritik an der Corona-Politik der Regierung üben wollte, musste entweder seine Karriere bereits gemacht haben, schweigen oder in die „Alternativmedien“ abwandern. Mit massivster leitmedialer Angstpropaganda und wissenschaftlicher Scheinevidenz — bis heute wird etwa nicht von positiv Getesteten statt Infizierten gesprochen, werden diese Zahlen nicht mit Zahlen der Tests korreliert, liegen keine Kohortenstudien vor, ist die Dunkelziffer immer noch im Dunklen und werden Sterbefallzahlen nicht kontextualisiert oder falsch kontextualisiert kommuniziert — hatte man der Bevölkerung eine Massenpsychose verabreicht, die bis heute andauert, noch lange andauern wird und der Installation von Überwachungsinfrastrukturen und staatlicher Repression den roten Teppich ausgerollt hat.

Im März und April 2020 konnte man die Bundesregierung für ihr Verhalten noch teilweise in Schutz nehmen und die erste Reaktion zumindest verstehen: Ein neues unbekanntes Virus war da und bevor es zu Bildern aus Bergamo kommt, lieber safety first und vom worst case ausgehen, damit später niemand sagen könne, man hätte nicht gewarnt und nicht alles getan. Doch entgegen den Modellrechnungen der wissenschaftlichen Profisupermodellierer, die mit scheinbarer Evidenz von Kurven, Zahlen und Berechnungen epidemiologische Horrorszenarien aufgestellt hatten, die nur durch dauerhafte und noch härtere Maßnahmen zu verhindern seien, ging im Laufe des Frühlings die Zahl der bestätigten Fälle (ohne Lockdown) kontinuierlich zurück, bis im Sommer quasi „ZeroCovid“ herrschte — und viele trotzdem weiterhin Angst hatten, sich zu umarmen oder die Hand zu geben.

Jetzt hätte es Zeit gegeben, zu analysieren, was im Frühjahr geschehen war und für den Herbst und Winter zu tun sei. Dabei hätte man zuvorderst das machen können, was eigentlich der genuine Modus Operandi der rational-kapitalistischen Moderne ist: eine möglichst präzise Risikobewertung und Kosten-Nutzen-Kalkulation vornehmen. Mit Blick auf die Daten hätte man feststellen können, dass Covid-19 deutlich überproportional gefährlich für ältere Menschen ist. Man hätte einen differenzierten Plan mit spezifischen Maßnahmen erstellen können und alles erdenken und tun müssen, um auf die Ultima Ratio, einen erneuten Lockdown, verzichten zu können. Entsprechende Forderungen wurden nach dem ersten Schock auch in der leitmedialen Öffentlichkeit etwas lauter. Hendrik Streeck merkte auf vielen Kanälen immer wieder an, dass es einer langfristigen Strategie bedürfe und wir lernen müssten, mit dem Virus zu leben, Julian Nida-Rümelin warb für die Great Barrington Declaration, Matthias Schrappe bekam immerhin Sendezeit auf „ZDFheute live“ , Oliver Lepsius durfte in der FAZ die Maßnahmen verfassungsrechtlich kritisieren und zwischendurch kam im WDR gar das Volk zu Wort. Einen (Dis-)Kurswechsel bewirkte dies jedoch nicht. Bis heute herrscht im Kanzleramt „Bunkermentalität“ und es scheint, als hätte die Bundesregierung nie ein ernsthaftes Interesse daran gehabt, die Pandemie gut und differenziert zu managen.

Denn anstelle alles zu tun, um vor allem die besonders vulnerablen Gruppen zu schützen, wurden Krankenhäuser geschlossen, wurde das Ergreifen differenzierter Maßnahmen weitestgehend unterlassen oder zu spät in die Wege geleitet und relativ tatenlos zugesehen, wie in Altenheimen an/mit Covid-19 gestorben wurde. Statt zu klatschen, hätte man allen Kranken- und Altenpflegern 2000 Euro mehr netto an Gehalt auszahlen, kontinuierliche Schnelltests in Krankenhäusern und Altenheimen organisieren, Hunde für die Erkennung von Covid-19 Infektionen trainieren, eine Diskussion und Kampagne zur Stärkung des Immunsystems in­i­ti­ie­ren, eine erhöhte Taktung von öffentlichen Verkehrsmitteln beschließen, verpflichtende Home Office-Regelungen verabschieden, Luftfilter in Fabriken, Büros und Schulen installieren, die Gesundheitsämter massiv verstärken und verbilligte Taxitarife und gesonderte Einkaufszeiten für vulnerable Gruppen einführen können. Maßnahmen also, die jetzt erst während und nach bereits Monaten des Lockdowns teilweise diskutiert und getroffen werden — sodass im Übrigen die Wirksamkeit einzelner Maßnahmen nicht überprüft respektive die Wirksamkeit des Lockdowns nicht bewiesen werden kann, aber der Öffentlichkeit erzählt werden kann, der Lockdown wirke. Die genannten, nicht schädigenden und Grundrechte verletzenden Maßnahmen sind wiederum nicht gerade eines Nobelpreises würdige geniale Eingebungen, sondern das auf der Hand liegende first to do. Und würde man wirklich nachdenken und die Pandemie grundrechtskonform und differenziert bekämpfen wollen, würde man sicher noch auf viele andere kluge Lösungen kommen. Stattdessen lautete die Scheinstrategie der Bundesregierung: Angst, Lockdown, Impfung, fertig.

2. Lockdown als Generationenkonflikt und Klassenkampf von oben

„There was never any lockdown. There was just middle-class people hiding while working-class people brought them things.“

JJ Charlesworth

Im Folgenden sei nun die zentrale Frage der (grundrechtlichen) Abwägung (nicht) getroffener Maßnahmen diskutiert. Hierbei gilt, dass die „Maßnahme Lockdown“ hauptsächlich auf folgenden Vorannahmen basiert:

1.) Ein Impfstoff wird das Problem lösen.

2.) Der Lockdown ist epidemiologisch wirksam und der Nutzen des Lockdowns ist größer als der Schaden.

1.) Die Bundesregierung hatte nie eine Strategie zur Epidemiebekämpfung. Denn mit der Maßnahme des Lockdowns war immer nur eine Wette verbunden: Darauf, dass ein Impfstoff kommt, der die Maßnahme des Lockdowns zu einer einmaligen Sache macht, die wir einmal durchhalten müssen, bis der Impfstoff uns rettet und wir in eine „neue alte Normalität“ zurückkehren können. Nun werden wir zwar für mindestens vier Monate ein zweites Mal im Lockdown gewesen sein, doch weitere Winter können wir schwerlich auf diese Art und Weise verbringen. Es müsste also spätestens jetzt in der Tat diskutiert werden, wie eine wirklich solidarische Eindämmung des Virus in Zukunft aussehen könnte, falls der Impfstoff das Problem nicht löst. Für den Moment gilt: Falls der Impfstoff das Problem nicht löst, war die Maßnahme des undifferenzierten und unsolidarischen Lockdowns niemals eine wirkliche Option — die uns aber als alternativlos verkauft wurde. Nur wenn Impfstoffe und/oder Therapeutika — über die viel zu wenig gesprochen wird — in diesem Jahr die Pandemie effektiv eindämmen, könnte überhaupt erst diskutiert werden, ob die Lockdown-Maßnahmen im Sinne eines Zeitgewinns gerechtfertigt waren respektive ob das durch sie verhinderte Leid das durch sie verursachte Leid aufwiegt. Dies müsste dann aber so ehrlich und offen diskutiert werden. Bis jetzt ist das Mittel Lockdown als Konsequenz unterlassenen oder zu späten Handelns lediglich eine Wette auf Erlösung durch Impfung gewesen.

2.) Liest man die Analysen von Christof Kuhbandner, die neueste Studie von John P.A. Ioannidis et al., den jüngsten Bericht der Covid-19 Data Analysis Group der LMU München oder vergleicht etwa einzelne Bundesstaaten in den USA, kann gesagt werden, dass die epidemiologische Wirksamkeit von Lockdowns nicht zweifelsfrei bewiesen ist. Mit dem Präventionsparadox kann wiederum ins Feld geführt werden, dass ohne Lockdowns mehr Infektionen stattgefunden hätten und deshalb mehr Menschen gestorben wären. Dieses Argument scheint zwar plausibel, ist aber ebenso wenig beweisbar wie das Gegenteil. Die Rechnung und Botschaft „weniger Kontakte gleich weniger Tote“ ist in ihrer absoluten Form nur scheinbar vollkommen plausibel. Relevant ist hierbei vor allem die Frage des Ausmaßes der Infektiosität von nicht-symptomatischen Virusträgern. Auch dies ist jedoch wissenschaftlich nicht eindeutig geklärt. Außerdem trägt der Lockdown in Form von Angst, Stress, Unsicherheit, Bewegungseinschränkung, Job- und Existenzverlust, Reduktion sozialer und körperlicher Kontakte etc. auch dazu bei, das Immunsystem zu schwächen und reduziert damit nicht nur, sondern steigert zugleich auch potentiell das Risiko einer Infektion.

Und nimmt man den Schutz des Lebens zum Ziel und möchte diesbezüglich Kosten und Nutzen von Maßnahmen kalkulieren, müssten ebenfalls die durch Folgen des Lockdowns noch in Zukunft auftretenden vorzeitigen Todesfälle in die Rechnung miteinbezogen werden. So kommt etwa eine Studie von Dimitri Christakis et al. kommt zu dem Ergebnis, dass die Schulschließungen in den USA während der ersten Welle für die betroffenen Kinder 5,53 Millionen Lebensjahre gekostet haben könnten, während der in diesem Zeitraum erlittene Verlust an Lebensjahren durch Covid-19 Tote auf 1,5 Millionen Lebensjahre geschätzt wird. Auf die Frage, ob Leben überhaupt miteinander verrechnet werden dürfen, wird zurückzukommen sein. Unstrittig ist aber, dass Armut, Unsicherheit und Stress das Risiko von Erkrankungen erhöhen und die Lebenserwartung signifikant reduzieren.

Und ebenso unstrittig sollte eigentlich sein, dass in freiheitlich-demokratischen Rechtsstaaten nicht die Bürger ihre Grundrechtsausübung, sondern Regierungen die Eingriffe in Grundrechte rechtfertigen müssen. Die Kosten und Nutzen von Maßnahmen hätten deshalb in einer breiten parlamentarischen und öffentlichen Debatte umfassend und nachvollziehbar diskutiert und abgewogen und hierfür auch ein multidisziplinär und multiperspektivisch besetzter Pandemierat eingesetzt werden müssen. Dies ist nicht geschehen. Stattdessen wurden und werden die Lockdowns mit einem verfassungsrechtlich nicht legitimierten „Konzil von Ministerpräsidenten und der Bundeskanzlerin“ (Heribert Prantl) an Volk, Wissenschaft, Verfassung und Parlament vorbei entschieden. Dass nicht alles getan wurde, um rechtzeitig grundrechtskonforme oder zumindest nur teilweise Grundrechte einschränkende Maßnahmen voll auszuschöpfen, hat wiederum dazu geführt, dass der jetzige Lockdown wahrscheinlich tatsächlich dazu beigetragen hat, eine Überschreitung der Intensivbettkapazitäten in Deutschland zu verhindern. Das heißt aber eben nicht, dass der Lockdown ein geeignetes Mittel ist, sondern dass man es verpasst hat, geeignete Mittel einzusetzen, die nicht Grundrechte einschränken, nicht die soziale Ungleichheit massiv erhöhen und womöglich in der Summe nicht mehr Todesopfer fordern.

Versuchen wir also, die ethische Frage der Abwägung noch einmal zu differenzieren und zu konkretisieren. Die Frage der nicht-tödlichen gesundheitlichen Spätfolgen von Covid-19 ausgeklammert, stehen sich hierbei im Grundsatz zwei Positionen gegenüber. Das Pro-Lockdown-Argument lautet: Wenn wir keinen Lockdown machen, töten wir Menschen. Das Kontra-Lockdown-Argument lautet: Wenn wir Lockdown machen, töten wir Menschen. Wir befinden uns also in einem Dilemma. Wir befinden uns in einer Art Trolley-Problem, in dem wir eine Entscheidung treffen müssen und hierfür differenzieren und dann abwägen müssen. Oder wie in einem Gastbeitrag des Tagesspiegels im April 2020 formuliert wurde:

„Wenn wir aktuell Hunderte Milliarden gegen diese Infektionskrankheit aufwenden, wie halten wir es mit der Bekämpfung von Alkohol- und Tabakkonsum, die alljährlich Zehntausende Menschen das Leben kosten? Und welches Geld, das wir jetzt verausgaben, bleibt für die Risiken des Klimawandels, der ebenfalls eine existentielle Bedrohung bedeutet? Eine komplexe Gesellschaft wie die unsrige kann auf solche Aufrechnungen nicht verzichten: weil wir entscheiden müssen, welchen Risiken des Lebens wir kollektiv mit welchen Ressourcen entgegentreten; beides nämlich ist endlich.“

Wenn wir also in einer dilemmatischen Situation abwägen müssen, dann sei — so sehr dies auch ein statistisch-diskursiv-ethisch-interpretatorisches Minenfeld ist –, ein Blick auf die einzig harten Fakten geworfen, über die wir in Bezug auf eine Bewertung des Risikos von Covid-19 verfügen: die Zahl der insgesamt pro Jahr Verstorbenen, die Altersstruktur der Bevölkerung und das Alter der an/mit Covid-19 Verstorbenen. Das Durchschnittsalter der in Deutschland an/mit Covid-19 Verstorbenen liegt über dem durchschnittlichen Sterbealter. Das Sterberisiko durch Covid-19 steigt mit zunehmendem Alter, wobei für die unter 50-jährigen kaum ein Risiko und die unter 40-jährigen so gut wie kein Sterberisiko besteht respektive das Risiko abnimmt, je jünger die Person ist. Da die Frage, ob jemand mit oder an Covid-19 verstorben ist, ein erkenntnistheoretisch-definitorisches Problem ist, blicken wir nun auf die Gesamtzahl der in Deutschland Verstorbenen der letzten Jahre. Dabei fällt auf, dass mitunter große Unterschiede zwischen einzelnen Jahren existieren und die gesamte Anzahl Verstorbener in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen ist. Erklärt wird dieser Anstieg mit dem in diesem Zeitraum ebenso gestiegenem Anteil an über 80-Jährigen in der Bevölkerung. Das statistische Bundesamt schreibt:

„Die Zahl der 80-Jährigen und Älteren zum Jahresende ist zwischen 2016 und 2019 um 15 % von 4,9 Millionen auf 5,7 Millionen gestiegen. Am Jahresende 2020 werden infolge des Geburtenanstiegs in den 1930er-Jahren voraussichtlich um bis zu 1 Million ab 80-Jährige (+ 20 %) mehr in Deutschland leben als noch 2016 (…). Entsprechend sind selbst bei gleichbleibender Sterblichkeit in dieser Altersgruppe auch mehr Sterbefälle als im Durchschnitt der Vorjahre zu erwarten.“

Aussagekräftig sind deshalb nicht die absoluten Todesfallzahlen, sondern ihr Verhältnis zur Gesamtbevölkerung sowie zur Altersstruktur (und weiteren Faktoren, die wir hier ausblenden). Darauf hat auch der Soziologe Bernhard Gill hingewiesen, mit Verweis auf einen Bericht zweier Professoren des Instituts für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität, in dem diese für 2020 keine signifikante Übersterblichkeit ausmachen können und einen Einfluss des Lockdowns auf die Todesrate bezweifeln.

Festzuhalten ist: In Deutschland sind im vergangenen Jahr rund 27.000 Menschen mehr als im „Grippewellen-Jahr“ 2018 verstorben und es ist nicht bewiesen, dass die Lockdowns in der Summe — also unter Einbezug noch zukünftig eintretender (vorzeitiger) Todesfälle infolge der Lockdown-Politik — mehr Todesfälle verhindert haben. Nochmal: Auch das Gegenteil ist damit nicht bewiesen, das heißt, ich behaupte nicht, dass Covid-19 nicht zu einer höheren Zahl von Todesfällen geführt hat und dass die Lockdowns nicht dazu beigetragen haben, eine höhere Zahl von Todesfällen zu verhindern. Doch nochmals: Es muss eben strikt zwischen Maßnahmen unterschieden werden, die nicht massiv in Grundrechte eingreifen und Schädigungen verursachen (Home Office, Händewaschen etc.) und der Maßnahme des Lockdowns, die ebenfalls Lebenszeit kostet, zu einer gigantischen Umverteilung von Vermögen geführt hat und politische und soziale Verwerfungen zur Folge haben wird, die in ihrem Ausmaß noch überhaupt nicht abzusehen sind. Diese (Spät-)Folgen der Lockdown-Politik bleiben jedoch medial nach wie vor weitestgehend im Unsichtbaren, tauchen nicht auf Titelseiten, in Sondersendungen und täglichen Balkendiagrammen von Fallzahlen auf, sind eine (scheinbar) ferne und abstrakte Zukunft und fallen (deshalb) bei der Abwägung bislang kaum ins Gewicht.

Geben wir diesen Folgen deshalb einmal Raum und blicken auf die Gruppe derjenigen, für die Covid-19 so gut wie kein Sterberisiko bedeutet und hierbei auf die von den Lockdowns in mehrfacher Hinsicht besonders betroffene Gruppe der Kinder und Jugendlichen — auf schwerwiegende Langzeitfolgen für Kinder weist etwa Gerald Hüther immer wieder eindringlich hin. Nehmen wir den hypothetischen Fall eines 12-jährigen Jungen in Deutschland. Welcher (mit den besten Absichten) harte und härtere Lockdowns Vertretende möchte sich vor diesen Jungen stellen und ihm erklären: Du wirst durch die medial verbreitete Angst, Stress in der Familie und mangelnden Sozialkontakt infolge des Lockdowns einen dauerhaften psychischen Schaden davontragen, an dem du den Rest deines Lebens leiden wirst und der deine Lebensdauer um fünf Jahre verkürzt. Du wirst in deiner Familie körperliche Gewalt erleben. Deine Eltern werden ihre Jobs verlieren, ihr werdet auf Hartz IV angewiesen sein und in eine kleinere Wohnung am Stadtrand umziehen müssen. Du wirst den Kontakt zu deinen Freunden verlieren. Dein Vater wird zu trinken beginnen, er wird keine neue Selbstständigkeit mehr aufnehmen, zunehmend zum Alkoholiker werden und mit 60 Jahren sterben. Da für die Lockdowns Unsummen ausgegeben wurden, wird die Regierung sagen, dass gespart werden müsse und nun für Klimaschutz, Kultur und Soziales kein Geld mehr da sei. Es wird eine wachsende Masse von Arbeitslosen und Unzufriedenen geben und wenn du 18 Jahre alt bist, wird die AfD bei der ersten Bundestagswahl, an der du teilnehmen darfst, 30 Prozent der Stimmen erhalten. Wirst du uns verzeihen, wenn wir dir sagen, dass all dies so gekommen ist, damit deine Großeltern, die das längste, wohlhabendste und freieste Leben aller jemals existiert habenden Menschheitsgenerationen gelebt haben und damit die Welt vergiftet, die Lebensgrundlagen an den Rand des Kollapses geführt und einen Großteil der Ressourcen verbraucht haben, die nun für dich nicht mehr zur Verfügung stehen, noch fünf Jahre länger leben konnten?

(Es ließen sich Millionen weiterer solcher Beispiele konstruieren. Die Vertreter harter und härterer Lockdowns könnten sich auch vor all Jene stellen, die infolge der Lockdowns nun Hunger leiden oder an Hunger sterben, sich prostituieren müssen oder keinerlei Bildungschancen mehr besitzen etc.)

Bei der „Lockdown-Corona-Politik“ handelt es sich deshalb um einen Klassenkonflikt, einen Generationenkonflikt und ein nicht auflösbares Dilemma. Dabei ließe sich etwa fragen: Hätte dieser 12-jährige Junge nicht das Recht, auch von den 40plus-Jährigen Solidarität einzufordern — und zwar im Sinne einer drastischen Veränderung ihres Lebensstils?

3. Für eine neue Linke

Das Argument von #ZeroCovid lautet: Wenn wir nicht 100% Lockdown machen, töten wir Menschen. Neben genannten Punkten richtet sich meine Kritik an dieser — sich dezidiert als solidarisch und links verstehenden — Position darauf, dass man diese Position auch konsequent auf andere Bereiche übertragen und hierbei jedoch wesentliche Unterschiede zwischen dem „Fall Corona“ und anderen Fällen, bei denen es ebenfalls um die kollektiven Ursachen und Folgen scheinbar individuellen Handelns geht, erkennen müsste. So müsste man etwa bereit sein zu sagen, dass wir mit unserer Art zu leben eine toxische Moderne geschaffen haben, die jetziges und künftiges Leben tötet; dass unsere Handelspolitik, unsere Produktionsweise tötet; dass jede Autofahrt, jeder Kauf in einem Supermarkt, Einrichtungshaus oder Elektronikhändler zu tödlichen Folgen beiträgt; dass wir mit unserem Handeln oder Nichthandeln zum Sterben von Lebewesen und Vernichten von Lebenschancen noch ungeborener Lebewesen beitragen, dass mithin eine Vielzahl täglicher scheinbar individueller Entscheidungen als Eingriffe in die Grundrechte anderer bereits lebender (junger) Menschen und noch künftiger Menschen (und Lebewesen) verstanden werden können — und diese deshalb keine nur das handelnde Individuum betreffende Entscheidungen sind.

Im Fall Corona wird dieser Zusammenhang von den Machteliten nun plötzlich anerkannt und werden radikale Einschränkungen individueller Freiheit zum Schutz der Freiheit anderer vorgenommen. In tausend anderen Fällen aber wird genau dies nicht getan. Vielmehr trägt im „Normalfall“ ein invertiert-pervertierter Freiheitsbegriff zur Aufrechterhaltung der Illusion bei, dass es sich bei dem Flug nach Thailand, Kauf des neuesten Smartphones, Verzehr des Schnitzels oder der Preisgabe von persönlichen Daten um eine „freie“ individuelle Entscheidung handle, die in keinerlei Bezug zu den Freiheitsmöglichkeiten und Rechten anderer Individuen stünde.

Eine linke Kritik hätte in der Corona-Krise genau diese Widersprüchlichkeit des Agierens der Machteliten deutlich machen können und dabei aber auf wesentliche Unterschiede zum angeblichen „Töten durch Unterlassung ohne Lockdown“ hinweisen müssen. Denn das Leiden und Sterben, das unser tägliches Handeln und Nichthandeln verursacht, könnte reduziert und behoben werden, ohne dafür Grundrechte außer Kraft zu setzen und ohne auf eine offene und freie Gesellschaft zu verzichten. So hätte eine linke Kritik in der Corona-Krise von Politik und Gesellschaft eine Erklärung fordern können, warum wir im Falle durch Unterernährung, verunreinigtes Trinkwasser, Luftverschmutzung oder die Folgen des Klimawandels Gestorbener vergleichbare Anstrengungen nicht unternehmen, obwohl diese Todesursachen veränderbar sind, ohne Grundrechte auszusetzen und Menschen zu schädigen, ja eben die Bekämpfung dieses Leids und Sterbens erst eine Ermöglichung von Grundrechten wäre, die wir mit unserem Handeln und Nichthandeln einschränken.

Der zweite wesentliche Unterschied liegt darin, dass wir uns im Falle Corona in dem bereits skizzierten Dilemma befinden. Eine linke Kritik an der Corona-Politik müsste einsehen, dass 1.) eine rein deontologische Perspektive, die jedes Leben maximal schützen will, nicht weiterhilft, da wir uns eben in einer Art Trolley-Problem befinden und es leider Infektionskrankheiten und daraus resultierende Todesfälle gibt, die wir nicht restlos beseitigen und verhindern können; dass 2.) eine Politik, die die Unversehrtheit des Körpers zur Maxime staatlichen Handelns erhebt, die Freiheit, Würde und Selbstbestimmung des Menschen massiv verletzt und bei konfligierenden Rechtsgütern unserer Verfassung nach eben die Würde des Menschen und nicht die quantitative Menge der Lebenszeit das höchste Kriterium für eine Abwägung ist; und dass wir 3.) in der Theorie unseres kantischen Ideals zwar keine Leben miteinander verrechnen dürfen, dies in der Praxis des Lebens aber ständig tun und tun müssen. Denn so profan es auch klingt: Politik ist nichts anderes als die kontinuierliche Verrechnung von Lebenschancen. Und natürlich ist das Leben eines 80-Jährigen nicht weniger wert als das eines 12-Jährigen und umgekehrt. In der Praxis der gegenwärtigen Corona-Politik wird aber das Leben des 80-Jährigen höher gewichtet als das Leben des 12-Jährigen und werden allgemein in der Praxis der gegenwärtigen Wirtschafts-, Steuer- oder Handelspolitik die Lebenschancen junger und künftiger Generationen vielfach niedriger gewichtet als die Interessen heutiger Vermögender. Nicht nur in Bezug auf Corona müssten wir deshalb zu einer Politik und Lebensweise finden, die die Rechte und Lebenschancen aller Lebewesen möglichst umfassend berücksichtigt.

So könnten für eine neue Linke in der (Post-)Covid-19-Ära aus dem hier Dargelegten folgende Schlüsse gezogen werden:

1.) Eine neue Linke müsste deutlich machen, dass die Lockdown-Politik de facto einen Klassenkampf von oben bedeutet(e) und wir für einen sozialen Ausgleich nicht eines noch autoritäreren Staates, sondern einer Reform der parlamentarischen Demokratie bedürften und dass ein solcher Wandel wohl nur mit zivilgesellschaftlicher und unternehmerischer Praxis sowie mit Protest und Druck von der Straße zu bewirken ist.

2.) Statt mit (gut gemeinten) ZeroCovid-Appellen dem global aufziehenden technologischen Totalitarismus noch Vorschub zu leisten, müsste eine neue Linke diesen scharf kritisieren und vor allem auch eine liberale Linke sein. Nicht unwahrscheinlich scheint, dass sich mit der polit-medial induzierten Massenpsychose die dauerhafte Installierung eines biopolitischen Hygiene-, Kontroll- und Überwachungsregimes durchsetzen lassen wird. Wir werden womöglich einen Kulturwandel erleben, in dem der Mitmensch immer als potentielles Infektionsrisiko wahrgenommen werden wird und sich jeder einer ständigen Registrierungs-, Ausweis- und Kontrollpflicht unterwerfen müssen wird, um Zugang zu sozialem Leben zu erhalten. Ob und wie dies “datenschutzkonform”, d.h. konform mit unserer freiheitlichen Rechtsordnung geschehen kann — Datenschutz schützt keine Daten, sondern die Freiheit von Personen und die Vorraussetzungen einer freiheitlichen Demokratie — und was dies für die Kultur unseres Zusammenlebens bedeutet, wird eine der zentralen Fragen der kommenden Jahre sein, die eine liberale Linke offensiv thematisieren muss.

3.) Und angesichts der dramatischen ökologischen Krise müsste eine neue Linke auch eine grüne Linke sein. Sie müsste deutlich machen, dass Freiheit, Gleichheit und Ökologie keine Gegensätze sind, sondern sich wechselseitig bedingen und das Eine nicht zum Preis des Anderen zu haben ist, dass also ein radikaler Wandel unserer Produktions- und Konsumtionsweise genau keine anti-liberale, anti-soziale Gesellschaft in Form einer „Öko-Diktatur“ bedeuten würde, sondern die Aufhebung des anti-liberalen, anti-sozialen Status Quo. Und gerade im Kontext von Corona könnte hierbei der so naheliegende Zusammenhang von Angst, Stress, Ungleichheit und Naturzerstörung in Bezug auf die Übertragung des Erregers, Schwächung des Immunsystems und Entstehung von Krankheiten hergestellt werden. So hätte eine neue Linke im Kontext von Corona längst fordern können:

Abschaltung der Kohlekraftwerke bis 2030. Weitestgehend autofreie Städte bis 2025. Sofortiges Verbot von Inlandsflügen. Massiver Ausbau von Schnellbahnstrecken in Europa. Tempolimit auf Autobahnen. Sofortiges Verbot von Mikroplastik. Drastische Reduzierung von Zucker in Lebensmitteln. Sofortige Flächenbindung für Viehwirtschaft und Umstellung auf 100% biologische Landwirtschaft. Kreislaufwirtschaft in allen Sektoren. Einführung einer Vermögensobergrenze und höheren Erbschaftssteuer. Damit Auszahlung eines „Startergelds“ von 50.000 Euro für jeden jeweils einmal im Alter von 20 und 30 Jahren. Erhöhung respektive Abschaffung von Hartz IV und Erhöhung der Grundrente. Etc. Etc.

Solche Maßnahmen, die stress- und angstfreiere Arbeitsverhältnisse, sauberere Böden, Gewässer und Luft, gesündere Lebensmittel und eine Reduktion des Ressourcenverbrauchs bewirken würden, wären wohl das effektivste Covid-19-Eindämmungsprogramm — und werden in den nächsten Jahren ohnehin nötig sein, will man das Leben auf diesem Planeten bewahren. Ein solch ganzheitlicher Blick auf die strukturellen Ursachen der Pathologien der entwickelten Moderne wäre nötig, um diese in eine enkeltaugliche Moderne zu überführen. Aufgabe einer liberalen, grünen und sozialen Linken wäre es, ein positives Bild von Zukunft zu zeichnen, in der die Lebenschancen aller Lebewesen weniger ungleich verteilt sind und wir uns nicht nur im Falle Corona als miteinander Verbundene und aufeinander Angewiesene verstehen und unsere Politik in Anerkennung dieses komplex-komplizierten, fragilen, rätselhaften und wundervollen Zusammenhangs tatsächlich solidarisch gestalten.

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